Zum ersten Mal seit Langem hat eine neue Koalition einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der einige bemerkenswerte religions- und weltanschauungspolitische Vorhaben umschreibt und mit ihnen einen Rahmen absteckt, in dem sich die religionspolitische Agenda in den kommenden vier Jahren voraussichtlich bewegen wird. Diese Ansätze lassen nichts weniger als eine Veränderung der Tektur dieses Politikfeldes erwarten, die gewiss von den einen befürchtet, von anderen schon seit einer ganzen Zeit erhofft wird. Als deren Ergebnis darf ein Abbau oder zumindest eine Modifizierung des altbekannten Privilegienbündels der etablierten Religionsgemeinschaften vermutet werden. Ein komplementärer Aufbau eines neuen, stärker auf die Gleichbehandlung religiöser Menschen unterschiedlicher Bekenntnisse und nichtreligiöser bzw. sich weltanschaulich als humanistisch verortender Menschen ist allerdings im Vertragstext nicht angeschnitten worden.
Immerhin spricht der Koalitionsvertrag, was den gesellschaftspolitischen Grundklang angeht, die Sprache einer offen, pluralistischen Gesellschaft, in der freie Individuen möglichst selbstbestimmt über ihre Lebensführung entscheiden. Aus einer weltanschaulich humanistischen Sicht ist dies natürlich sehr zu begrüßen. Doch bereits bei der kommenden neuen Gesetzgebung zur Sterbehilfe wird sich erweisen, ob und inwieweit diese Grundhaltungen auch in eine entsprechende ethische Bewertung der gesetzgeberischen Ambition einfließen und sich der Bundestag nicht, wie es in den vergangenen Legislaturperioden leider der Fall war, aus religiösen oder anderen Gründen zur Gängelung der Bevölkerung bei deren ureigensten Lebensentscheidungen versteigt. Das klare Urteil des Bundesverfassungsgerichts mag hier die nötigen Leitplanken liefern.
Überraschend und ebenfalls weitreichend sind die strukturellen Vorhaben der Koalition im Politikfeld Religion und Weltanschauung. Von ihnen sind insbesondere drei hervorzuheben: 1. die Ablösung der überkommenen Staatsleistungen, 2. die Reform des kirchlichen Sonderstatus im Arbeitsrecht, und 3. Reformen im Zusammenhang mit der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts.
- Seit 100 Jahren haben sich alle Regierungen um die heikle Frage der Ablösung der Staatsleistungen gedrückt. Es ist den Koalitionär*innen hoch anzurechnen, dass sie nunmehr den Verfassungsauftrag einlösen wollen, und, wie es schon die Weimar Verfassung forderte, die Grundsätze für diese Ablösung aufstellen wollen. Dafür wurden in der vergangenen Legislatur bereits Vorarbeiten geleistet und ein von FDP, Grünen und Linken getragener Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Lösung über eine Kapitalisierung und Abfindungszahlung vorschlägt. Den beiden großen Kirchen, die von den Staatsleistungen am meisten profitieren, wird die avisierte milliardenschwere Zuführung in ihren Kapitalstock wohl nichts ausmachen. Die Durchdeklination dessen auch auf alle anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, deren staatliche Unterstützung oftmals, sogar in der Regel auf einem Junktim mit diesen Staatsleistungen für die beiden Kirchen (und vor allem für die katholische) beruht, wird eine Fülle von Rechtsfragen aufwerfen. Dieser Prozess wird zu einer Herausforderung für die Landesregierungen werden, und möglicherweise auch für die Rechtsgelehrte und Gerichte.
- Dass das von den beiden Kirchen angewendete Arbeitsrecht an manchen Stellen aus den Fugen geraten ist, wird kaum mehr bestritten. Zwar können die entsprechenden Körperschaften innerhalb der für alle geltenden Gesetze eigene Regelungen treffen und sind in etlichen arbeitsrechtlichen Regelungen außen vorgelassen worden, doch wirken die christlichen Sittenkodizes heute aus der Zeit gefallen. Ihre Anwendung auf nahezu alle Arbeitsverhältnisse erntet regelmäßig öffentliche Kritik. Die angekündigte, sinnvolle Begrenzung auf einen eng gefassten Verkündigungsbereich erscheint somit überfällig. Allerdings wird die konkrete Fassung dieses Ausnahmebereichs noch für Diskussionen sorgen. Gehören auch pädagogische Fachkräfte wie Erzieher*innen dazu? Wenn ja, auch die Ergänzungskräfte? Sportlehrer*innen? Wo endet der geschützte seelsorgerische Bereich, wo beginnt die sozialpädagogische oder psychologische Beratung, die von jeder qualifizierten Person unabhängig von ihrer geistigen Orientierung erbracht werden kann? Völlig offen sind die Fragen des kollektiven Arbeitsrechts, insbesondere die der Dienstherrenfähigkeit, des besonderen Status‘ der Kirchenbeamt*innen und weltanschaulichen Beamt*innen, und der betrieblichen Mitbestimmung. Man wird im weiteren Fortgang der politischen Diskussion dazu sehen, wie viele Teufel in den vielen Details stecken.
- Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften leisten gleichermaßen wichtige soziale und gesellschaftliche Arbeit. Oftmals sind allerdings Organisationsfragen für die staatliche Unterstützung bedeutsam, und die „Kirchenförmigkeit“ vieler Rechtsbereiche steht einer wirklichen Gleichbehandlung aller Bürger*innen im Weg. Eine zeitgemäße Anpassung der politischen und rechtlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens, die der heutigen religiös-weltanschaulichen Vielfalt in Deutschland entspricht und bestehende Diskriminierungen überwindet, ist überfällig. In vielen Fragen sind es muslimische Gemeinschaften ebenso wie humanistische, die aufgrund ihrer anderen Kultur und Tradition einem „kirchenförmigen“ Rechtsraster nicht entsprechen können, sei es wegen einer angeblichen fehlenden geistlich autoritativen Figur, oder einem angeblich unzureichenden Zugehörigenkreis. Dies führt regelmäßig zu einer Diskriminierung von nicht-christlichen Bürger*innen, insbesondere muslimischen und humanistischen, gegenüber den christlichen. Vielfach sind hier freilich Fragen der Länder, weniger des Bundes touchiert. Eine Reform der Rechtsformen und der ihnen zugeordneten besonderen Eigenschaften über die öffentlich-rechtliche oder rein private hinaus kann jedoch immerhin einen Beitrag dazu leisten, diesen notwendigen Reformprozess auf allen legislativen und administrativen Ebenen anzustoßen.
Mit diesen Themen ist zwar die religions- und weltanschauungspolitische Agenda des Koalitionsvertrages umrissen, aber damit sind noch nicht alle Themen auf der Tagesordnung der Zivilgesellschaft erledigt. Hier steht unverändert, den Bedürfnissen und Ansprüchen der weltanschaulich größten und stetig wachsenden Bevölkerungsgruppe gerecht zu werden, nämlich der Nichtreligiösen. Die im Grundgesetz angelegte Gleichberechtigung aller Bürger*innen in Deutschland, unabhängig davon, ob sie einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft angehören oder nicht, ist noch immer gesellschaftlich und politisch zu verwirklichen. Die Einführung eines regelmäßigen Dialogs mit den weltanschaulichen Gruppierungen wäre eine geeignete erste Maßnahme, um den Kreis der zu bearbeitenden Themen zu erfassen und die zu ergreifenden Reformen zu erörtern. Auf Bundesebene sind hierfür beispielsweise die Themen der Begabtenförderung, die Militär- und Polizeiseelsorge, die Entwicklungshilfe bis hin zur angemessenen Repräsentanz in der staatlichen Erinnerungs- und Gedenkkultur anzusprechen. Außen- und menschenrechtspolitisch wäre zudem die Lage nichtreligiöser Menschen und der Schutz von Apostat*innen in bestimmten Ländern zu thematisieren.
Die neue Koalition lässt zumindest die Chance erkennen, den jahrzehntelangen Stillstand in der Religions- und Weltanschauungspolitik mit einem neuen politischen Ansatz und auch einer neuen Gesetzgebung zu beenden. Würde dies unter der Regierung Scholz gelingen und somit der Weg zu einer echten, fairen Pluralität der Religionen und Weltanschauungen in Deutschland eröffnet, wäre dies ein wahrhaft historisches Verdienst.