Weltanschauungspolitische Fragen der aktuellen Legislaturperiode

Ein Kommentar von Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen Vereinigung und Co-Autor des IHP-Berichts „Gläserne Wände“ zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland, zu den Chancen der aktuellen Bundesregierung.

Zum ers­ten Mal seit Lan­gem hat eine neue Koali­ti­on einen Koali­ti­ons­ver­trag vor­ge­legt, der eini­ge bemer­kens­wer­te reli­gi­ons- und welt­an­schau­ungs­po­li­ti­sche Vor­ha­ben umschreibt und mit ihnen einen Rah­men absteckt, in dem sich die reli­gi­ons­po­li­ti­sche Agen­da in den kom­men­den vier Jah­ren vor­aus­sicht­lich bewe­gen wird. Die­se Ansät­ze las­sen nichts weni­ger als eine Ver­än­de­rung der Tek­tur die­ses Poli­tik­fel­des erwar­ten, die gewiss von den einen befürch­tet, von ande­ren schon seit einer gan­zen Zeit erhofft wird. Als deren Ergeb­nis darf ein Abbau oder zumin­dest eine Modi­fi­zie­rung des alt­be­kann­ten Pri­vi­le­gi­en­bün­dels der eta­blier­ten Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ver­mu­tet wer­den. Ein kom­ple­men­tä­rer Auf­bau eines neu­en, stär­ker auf die Gleich­be­hand­lung reli­giö­ser Men­schen unter­schied­li­cher Bekennt­nis­se und nicht­re­li­giö­ser bzw. sich welt­an­schau­lich als huma­nis­tisch ver­or­ten­der Men­schen ist aller­dings im Ver­trags­text nicht ange­schnit­ten worden.

Immer­hin spricht der Koali­ti­ons­ver­trag, was den gesell­schafts­po­li­ti­schen Grund­klang angeht, die Spra­che einer offen, plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft, in der freie Indi­vi­du­en mög­lichst selbst­be­stimmt über ihre Lebens­füh­rung ent­schei­den. Aus einer welt­an­schau­lich huma­nis­ti­schen Sicht ist dies natür­lich sehr zu begrü­ßen. Doch bereits bei der kom­men­den neu­en Gesetz­ge­bung zur Ster­be­hil­fe wird sich erwei­sen, ob und inwie­weit die­se Grund­hal­tun­gen auch in eine ent­spre­chen­de ethi­sche Bewer­tung der gesetz­ge­be­ri­schen Ambi­ti­on ein­flie­ßen und sich der Bun­des­tag nicht, wie es in den ver­gan­ge­nen Legis­la­tur­pe­ri­oden lei­der der Fall war, aus reli­giö­sen oder ande­ren Grün­den zur Gän­ge­lung der Bevöl­ke­rung bei deren urei­gens­ten Lebens­ent­schei­dun­gen ver­steigt. Das kla­re Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts mag hier die nöti­gen Leit­plan­ken liefern.

Über­ra­schend und eben­falls weit­rei­chend sind die struk­tu­rel­len Vor­ha­ben der Koali­ti­on im Poli­tik­feld Reli­gi­on und Welt­an­schau­ung. Von ihnen sind ins­be­son­de­re drei her­vor­zu­he­ben: 1. die Ablö­sung der über­kom­me­nen Staats­leis­tun­gen, 2. die Reform des kirch­li­chen Son­der­sta­tus im Arbeits­recht, und 3. Refor­men im Zusam­men­hang mit der Rechts­form der Kör­per­schaft des öffent­li­chen Rechts.

  1. Seit 100 Jah­ren haben sich alle Regie­run­gen um die heik­le Fra­ge der Ablö­sung der Staats­leis­tun­gen gedrückt. Es ist den Koalitionär*innen hoch anzu­rech­nen, dass sie nun­mehr den Ver­fas­sungs­auf­trag ein­lö­sen wol­len, und, wie es schon die Wei­mar Ver­fas­sung for­der­te, die Grund­sät­ze für die­se Ablö­sung auf­stel­len wol­len. Dafür wur­den in der ver­gan­ge­nen Legis­la­tur bereits Vor­ar­bei­ten geleis­tet und ein von FDP, Grü­nen und Lin­ken getra­ge­ner Gesetz­ent­wurf vor­ge­legt, der eine Lösung über eine Kapi­ta­li­sie­rung und Abfin­dungs­zah­lung vor­schlägt. Den bei­den gro­ßen Kir­chen, die von den Staats­leis­tun­gen am meis­ten pro­fi­tie­ren, wird die avi­sier­te mil­li­ar­den­schwe­re Zufüh­rung in ihren Kapi­tal­stock wohl nichts aus­ma­chen. Die Durch­de­kli­na­ti­on des­sen auch auf alle ande­ren Reli­gi­ons- und Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten, deren staat­li­che Unter­stüt­zung oft­mals, sogar in der Regel auf einem Junk­tim mit die­sen Staats­leis­tun­gen für die bei­den Kir­chen (und vor allem für die katho­li­sche) beruht, wird eine Fül­le von Rechts­fra­gen auf­wer­fen. Die­ser Pro­zess wird zu einer Her­aus­for­de­rung für die Lan­des­re­gie­run­gen wer­den, und mög­li­cher­wei­se auch für die Rechts­ge­lehr­te und Gerichte.
  2. Dass das von den bei­den Kir­chen ange­wen­de­te Arbeits­recht an man­chen Stel­len aus den Fugen gera­ten ist, wird kaum mehr bestrit­ten. Zwar kön­nen die ent­spre­chen­den Kör­per­schaf­ten inner­halb der für alle gel­ten­den Geset­ze eige­ne Rege­lun­gen tref­fen und sind in etli­chen arbeits­recht­li­chen Rege­lun­gen außen vor­ge­las­sen wor­den, doch wir­ken die christ­li­chen Sit­ten­ko­di­zes heu­te aus der Zeit gefal­len. Ihre Anwen­dung auf nahe­zu alle Arbeits­ver­hält­nis­se ern­tet regel­mä­ßig öffent­li­che Kri­tik. Die ange­kün­dig­te, sinn­vol­le Begren­zung auf einen eng gefass­ten Ver­kün­di­gungs­be­reich erscheint somit über­fäl­lig. Aller­dings wird die kon­kre­te Fas­sung die­ses Aus­nah­me­be­reichs noch für Dis­kus­sio­nen sor­gen. Gehö­ren auch päd­ago­gi­sche Fach­kräf­te wie Erzieher*innen dazu? Wenn ja, auch die Ergän­zungs­kräf­te? Sportlehrer*innen? Wo endet der geschütz­te seel­sor­ge­ri­sche Bereich, wo beginnt die sozi­al­päd­ago­gi­sche oder psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung, die von jeder qua­li­fi­zier­ten Per­son unab­hän­gig von ihrer geis­ti­gen Ori­en­tie­rung erbracht wer­den kann? Völ­lig offen sind die Fra­gen des kol­lek­ti­ven Arbeits­rechts, ins­be­son­de­re die der Dienst­her­ren­fä­hig­keit, des beson­de­ren Sta­tus‘ der Kirchenbeamt*innen und welt­an­schau­li­chen Beamt*innen, und der betrieb­li­chen Mit­be­stim­mung. Man wird im wei­te­ren Fort­gang der poli­ti­schen Dis­kus­si­on dazu sehen, wie vie­le Teu­fel in den vie­len Details stecken.
  3. Reli­gi­ons- und Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten leis­ten glei­cher­ma­ßen wich­ti­ge sozia­le und gesell­schaft­li­che Arbeit. Oft­mals sind aller­dings Orga­ni­sa­ti­ons­fra­gen für die staat­li­che Unter­stüt­zung bedeut­sam, und die „Kir­chen­för­mig­keit“ vie­ler Rechts­be­rei­che steht einer wirk­li­chen Gleich­be­hand­lung aller Bürger*innen im Weg. Eine zeit­ge­mä­ße Anpas­sung der poli­ti­schen und recht­li­chen Grund­la­gen unse­res Gemein­we­sens, die der heu­ti­gen reli­gi­ös-welt­an­schau­li­chen Viel­falt in Deutsch­land ent­spricht und bestehen­de Dis­kri­mi­nie­run­gen über­win­det, ist über­fäl­lig. In vie­len Fra­gen sind es mus­li­mi­sche Gemein­schaf­ten eben­so wie huma­nis­ti­sche, die auf­grund ihrer ande­ren Kul­tur und Tra­di­ti­on einem „kir­chen­för­mi­gen“ Rechts­ras­ter nicht ent­spre­chen kön­nen, sei es wegen einer angeb­li­chen feh­len­den geist­lich auto­ri­ta­ti­ven Figur, oder einem angeb­lich unzu­rei­chen­den Zuge­hö­ri­gen­kreis. Dies führt regel­mä­ßig zu einer Dis­kri­mi­nie­rung von nicht-christ­li­chen Bürger*innen, ins­be­son­de­re mus­li­mi­schen und huma­nis­ti­schen, gegen­über den christ­li­chen. Viel­fach sind hier frei­lich Fra­gen der Län­der, weni­ger des Bun­des tou­chiert. Eine Reform der Rechts­for­men und der ihnen zuge­ord­ne­ten beson­de­ren Eigen­schaf­ten über die öffent­lich-recht­li­che oder rein pri­va­te hin­aus kann jedoch immer­hin einen Bei­trag dazu leis­ten, die­sen not­wen­di­gen Reform­pro­zess auf allen legis­la­ti­ven und admi­nis­tra­ti­ven Ebe­nen anzustoßen.

Mit die­sen The­men ist zwar die reli­gi­ons- und welt­an­schau­ungs­po­li­ti­sche Agen­da des Koali­ti­ons­ver­tra­ges umris­sen, aber damit sind noch nicht alle The­men auf der Tages­ord­nung der Zivil­ge­sell­schaft erle­digt. Hier steht unver­än­dert, den Bedürf­nis­sen und Ansprü­chen der welt­an­schau­lich größ­ten und ste­tig wach­sen­den Bevöl­ke­rungs­grup­pe gerecht zu wer­den, näm­lich der Nicht­re­li­giö­sen. Die im Grund­ge­setz ange­leg­te Gleich­be­rech­ti­gung aller Bürger*innen in Deutsch­land, unab­hän­gig davon, ob sie einer Reli­gi­ons- oder Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaft ange­hö­ren oder nicht, ist noch immer gesell­schaft­lich und poli­tisch zu ver­wirk­li­chen. Die Ein­füh­rung eines regel­mä­ßi­gen Dia­logs mit den welt­an­schau­li­chen Grup­pie­run­gen wäre eine geeig­ne­te ers­te Maß­nah­me, um den Kreis der zu bear­bei­ten­den The­men zu erfas­sen und die zu ergrei­fen­den Refor­men zu erör­tern. Auf Bun­des­ebe­ne sind hier­für bei­spiels­wei­se die The­men der Begab­ten­för­de­rung, die Mili­tär- und Poli­zei­seel­sor­ge, die Ent­wick­lungs­hil­fe bis hin zur ange­mes­se­nen Reprä­sen­tanz in der staat­li­chen Erin­ne­rungs- und Gedenk­kul­tur anzu­spre­chen. Außen- und men­schen­rechts­po­li­tisch wäre zudem die Lage nicht­re­li­giö­ser Men­schen und der Schutz von Apostat*innen in bestimm­ten Län­dern zu thematisieren.

Die neue Koali­ti­on lässt zumin­dest die Chan­ce erken­nen, den jahr­zehn­te­lan­gen Still­stand in der Reli­gi­ons- und Welt­an­schau­ungs­po­li­tik mit einem neu­en poli­ti­schen Ansatz und auch einer neu­en Gesetz­ge­bung zu been­den. Wür­de dies unter der Regie­rung Scholz gelin­gen und somit der Weg zu einer ech­ten, fai­ren Plu­ra­li­tät der Reli­gio­nen und Welt­an­schau­un­gen in Deutsch­land eröff­net, wäre dies ein wahr­haft his­to­ri­sches Verdienst.

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